Schlechtes Notfallmanagement – schleppende Digitalisierung

Zugausfälle in vielen Regionen Deutschlands, weil Stellwerke des Infrastrukturbetreibers DB Netz AG nicht besetzt sind

Berlin (15. September 2022):

Viele Bahnfahrgäste erreichen ihre Ziele derzeit nicht oder erheblich verspätet, weil in Stellwerken der DB Netz zu wenig Personal vorhanden ist. Vorrangiger Grund ist ein hoher, auch durch Corona erhöhter, Krankenstand. Dahinter aber zeigt sich, dass die auf Konzernergebnis statt auf Qualität verpflichtete Tochter der DB AG zu wenig bei der Personalgewinnung und Qualifizierung des Bestandspersonals getan hat und Notfallprozesse nicht gut funktionieren. Die bloße Hoffnung auf Besserung durch digitale Stellwerke hat sich bisher nicht erfüllt. Auch für die kommenden Jahre zeichnet sich keinerlei Besserung ab, dringend notwendige Bundeshaushaltsmittel sind bisher nicht vorgesehen.

mofair-Geschäftsführer Matthias Stoffregen: „Wenn ein Verkehrsunternehmen eine knappe Stunde vor Abfahrt des Zuges erfährt, dass das Stellwerk nicht besetzt ist und die Fahrt ausfallen muss, ist es schon viel zu spät. Es kann die Fahrgäste nicht mehr informieren. Auch Ersatzbusse kommen nicht von irgendwo her. Wenn DB Netz kurzfristig kein zusätzliches Personal anwerben kann, müssen wenigstens die Vorwarnzeiten länger werden. Mittelfristig braucht es deutlich mehr geschultes Personal und vor allem eine konsequente Digitalisierung der Schiene. Diese muss auch finanziert werden. Sie muss ein integraler Bestandteil der gemeinwohlorientierten Schieneninfrastrukturgesellschaft werden, die der Koalitionsvertrag vorsieht.“

Als der Mainzer Hauptbahnhof im Sommer 2013 über mehrere Tage vom Fernverkehr gar nicht und im Regionalverkehr nur eingeschränkt angefahren werden konnte, wurde Personalmangel in Stellwerken erstmals in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Was damals noch ein „Skandal“ war, ist heute fast schon der Normalfall. Ist ein Stellwerk nicht besetzt, können in seinem Umfeld entweder gar keine Züge fahren oder nur voreingestellte Fahrstraßen genutzt werden.

In den vergangenen Wochen sind Stellwerke in mindestens sechs Bundesländern zeitweilig oder über längere Zeit nicht besetzt gewesen:

  • Niederrhein (DB-Netz Regionalbereich [RB] West)
  • Südniedersachsen (RB Nord)
  • Pfalz/Rheinhessen/Südhessen (RB Mitte)
  • Mitteldeutschland (RB Südost)

Die Ausfälle schwanken zwischen einer Stunde, regelmäßig einem halben Tag über längere Zeit bis hin zu Komplettausfällen über einen Monat.

Besonders stark war und ist der Südharzkorridor Halle – Lutherstadt, Eisleben – Sangerhausen – Nordhausen – Kassel betroffen. Immer wieder fallen zumindest Teilstrecken aus, manchmal für halbe und ganze Tage.

Dabei sind die Vorwarnzeiten ausgesprochen kurz: Den Eisenbahnverkehrsunternehmen wird mitunter eine Stunde (!) vorher mitgeteilt, dass auf bestimmten Strecken keine Züge fahren können. In einer solch kurzen Frist kann dann kein Schienenersatzverkehr mit Bussen mehr organisiert werden. Auch eine angemessene Information der Fahrgäste ist nicht mehr möglich.

 

Erhebliche Folgen für Fahrgäste und Unternehmen

Die Ausfälle und vor allem ihre Unberechenbarkeit führen zu einem erheblichen Vertrauensverlust bei den Fahrgästen, gerade weil der Anlass (vermeintlich!) so banal ist und so leicht zu lösen wäre. Mitunter erfahren Fahrgäste während der Zugfahrt (!), dass diese wegen Personalmangels gleich beendet ist. Sie stranden an einem Bahnhof, zu dem sie nicht wollten und von dem aus sie nicht ohne weiteres weiterkommen.

Bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen leiden die Personaleinsatz- und die Umlaufpläne: Weil bestimmte Fahrten nicht stattfinden können, sind Triebfahrzeuge und Lokführer plötzlich nicht dort, wo sie eigentlich sein müssten. Züge stauen sich. So wird auch das Wiederanlaufen des Verkehrs zu einer Herausforderung – etwa vergleichbar der Situation nach einer Arbeitsniederlegung.

Und obwohl die Verkehrsunternehmen keinen Einfluss auf das Funktionieren des Netzes und damit der Stellwerke haben, sind sie gegenüber den Aufgabenträgern rechenschaftspflichtig, dass Züge fahren und das auch pünktlich. Andernfalls wird ihr Leistungsentgelt gekürzt. So werden die Unternehmen, die angesichts massiv gestiegener Energie- und Materialkosten ohnehin in einer prekären Lage sind, weiter geschädigt.

 

Gründe für die akuten Probleme

Zum einen spielt der hohe Krankenstand – wie anderswo auch – nicht zuletzt aufgrund der weiter grassierenden Coronapandemie eine Rolle. Das eigentliche Problem aber liegt tiefer: Über Jahre hinweg hat es die DB Netz versäumt, ausreichend Personal auszubilden und sich so resilienter aufzustellen. Zudem funktionieren die DB-Netz-internen Prozesse oft nicht: Obwohl die Krankmeldung eines Fahrdienstleiters bereits seit dem Morgen bekannt ist, werden daraus über Stunden keine Schlüsse gezogen.

Stellwerke in Deutschland gibt es je nach Zählungen in 70 bis über 100 verschiedenen Bauformen, vom Seilzug aus Kaisers Zeiten über das Relaisstellwerk der Nachkriegsjahre bis hin zu Digitalen Stellwerken. Dieser „Stellwerkszoo“ ist kaum mehr beherrschbar. Er führt nicht nur oft zu sehr kleinen Stellbezirken, sondern auch dazu, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus einem Standort nicht einfach flexibel andernorts eingesetzt werden können, wenn dort Personal fehlt. Ausführliche Einweisungen in die Technik wären notwendig,

Die bisherige Verfasstheit der DB Netz AG innerhalb der Deutschen Bahn AG, die mehr dem Konzernergebnis als der Qualität verpflichtet ist, ist ein wesentliches Hindernis bei der Digitalisierung. mofair hat dies in einem aktuellen Positionspapier herausgearbeitet.[1]

 

Was getan werden muss

Für die immer wieder periodisch auftretenden geballten Personalengpässe muss die DB Netz gezielte Notfallpläne aufstellen, um zu vermeiden, dass Streckensperrungen eher nach dem Zufallsprinzip vorgenommen werden müssen. Dazu gehören auch entsprechende Kommunikationskonzepte gegenüber den Verkehrsunternehmen.

Ferner darf die DB AG als Gesamtkonzern nicht mehr nur auf die hohe Zahl Einzustellender hinweisen (ohne  dazu zu sagen, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter altersbedingt ausscheiden), sondern muss einen besonderen Schwerpunkt bei den Fahrdienstleitungen legen, ohne die kein Zugbetrieb möglich ist.

Vor allem muss die seit langem geforderte Digitalisierung der Schiene mit voller Kraft vorangetrieben werden. Gerade das Bundesministerium für Digitales und Verkehr sollte hier vorangehen. Digitale Stellwerke ermöglichen deutlich größere Stellbezirke. Im Notfall kann ein Stellwerk auch die Funktion eines Nachbarstellwerks übernehmen. Durch die Standardisierung kann Personal auch an anderen Orten flexibler eingesetzt werden; das System wird dadurch widerstandsfähiger. Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2023 findet sich jedoch keinerlei Beschleunigung der Digitalisierung – im Gegenteil.

 

Wieder einmal zeigt sich: Die Infrastruktursparten der DB müssen unverzüglich – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – in einer gemeinwohlorientieren Gesellschaft zusammengefasst werden, die nach Qualitäts- und nicht nach finanziellen Kennzahlen geführt wird. mofair hat dazu bereits Position bezogen[2] und drängt auf Umsetzung – nur so kann die Eisenbahn den ihr zustehenden Beitrag zum Klimaschutz und zur Verkehrswende leisten.

[1] https://mofair.de/wp-content/uploads/2022/08/220824-Digitalisierung-und-Gemeinwohlorientierung.pdf. Dieser Text ist eine Konkretisierung unseres umfassenden Papiers zur Umsetzung der im Koalitionsvertrag geforderten gemeinwohlorientierten Infrastrukturgesellschaft: https://mofair.de/wp-content/uploads/2022/01/220127-Gemeinwohlorientierung-Schieneninfrastruktur.pdf.

[2] https://mofair.de/wp-content/uploads/2022/01/220127-Gemeinwohlorientierung-Schieneninfrastruktur.pdf, siehe auch einen Folienvortrag zum Thema:
https://mofair.de/wp-content/uploads/2022/03/220325-Umsetzung-Koalitionsvertrag-Gemeinwohlorientierung-Schieneninfrastruktur.pdf.

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Dr. Matthias Stoffregen

Geschäftsführer mofair e. V.

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